"Seit 1991 bekommen wir Asybewerber zugewiesen - das suchen wir uns nicht aus"
Offene Diskussion um die Ausschreibung für die Unterbringung von Flüchtlingen im Landkreis Wittenberg
Am 12. Oktober fand in der Reihe "Talk am Turm" der evangelischen Akademie ein Gespräch zum neuen Unterbringungskonzept des Landkreis Wittenberg für die 180 Flüchtlinge statt. Bisher müssen die Flüchtlinge, die in den Landkreis Wittenberg verteilt wurden, in einer heruntergekommenen Kaserne in der Nähe des Dorfes Möhlau leben. Die evangelische Akademie hatte drei Gäste eingeladen, die kurz ins Thema einführten, nach einer kurzen Pause begann eine offene Diskussion mit allen Anwesenden.
Einführungsrunde
Michael Marquardt (Auslandsgesellschaft Sachsen-Anhalt e.V., Bündnis für Zuwanderung und Integration Sachsen-Anhalt, Runder Tisch gegen Ausländerfeindlichkeit) berichtete, dass der Gesetzgeber generell für Flüchtlinge nach Möglichkeit eine Unterbringung in kleineren Unterkünften vorsieht, Ausnahmen (z.B. Spätaussiedler) können in Wohnungen untergebracht werden.
Nach seiner Einschätzung sei eine Gemeinschaftsunterkunft (GU) nur für wenige Jahre geeignet; Tatsache sei aber, dass Menschen gezwungen sind, dort für viele Jahre zu leben. Aus seiner Erfahrung kenne er Fälle von bis zu 16 Jahren. Er gehe nicht davon aus, dass Angestellte aus der Verwaltung den Menschen etwas Schlechtes wollten, das sei aber genau das Resultat. Mitarbeiter in den Unterkünften hätten das Gefühl "Flüchtlinge seien undankbar", Flüchtlinge selber "fühlten sich gegängelt"; ein selbstbestimmtes Leben sei für sie nicht möglich. Er merkte auch Landkreise wie Sangerhausen an, die sich gegen eine GU entschieden hätten, und sei es auch nur aus finanziellen Überlegungen.
Mario Bialek (Initiative "Runder Tisch Flüchtlingsheim Möhlau", Lokaler Aktionsplan für Demokratie und Toleranz (LAP) der Stadt Dessau-Roßlau) mahnte an, dass man das Potential von Menschen mit Migrationhintergrund für die Gesellschaft nutzen sollte und der derzeitige Umgang mit Flüchtlingen nicht mehr zeitgemäß sei. Er wies darauf hin, dass die Beteiligung von MigrantInnen am Integrationsprozess von besonderer Bedeutung für das Gelingen von Integration ist, genau wie auch die Einbindung anderer gesellschaftlicher Akteure. Dies sei bis heute nicht geschehen, so Bialek, obwohl Landrat Jürgen Dannenberg Mitglied des Landesintegrationsbeirates ist, welcher genau jenes empfiehlt.
Dann erzählte Anke Tiemann (Geschäftsbereichsleiterin Ordnung, Sicherheit und Bau, Vertreterin des Landrates), der Gesetzgeber schreibe vor, wie mit Flüchtlingen umgegangen werden soll. "Seit 1991", so Tiemann, "bekommen wir Flüchtlinge zugewiesen - das suchen wir uns nicht aus". Heute würden in der GU Möhlau 180 Bewohner leben, früher war Möhlau eine zentrale Aufnahmestelle, in der zu Spitzenzeiten 1.000 Bewohner untergebracht worden waren. Gegenwärtig "gebe es nur noch eine zentrale Abschiebestelle in Halberstadt, keine Aufnahmestelle" mehr (Es existiert weiterhin die zentrale Aufnahmestelle (ZASt) in Halberstadt, dies ist das einzige Lager, welches jedem Bundesland bindend gesetzlich vorgeschrieben ist; Anmerkung des Verfassers). Bis 1998 gab es 29 kleine Unterkünfte im Landkreis Wittenberg. Laut Tiemann kam es damals zu "Schwierigkeiten in der Verwaltung", außerdem seien "von 6.000 Flüchtlingen 1.000 untergetaucht". Deshalb sei 1998 eine zentrale Unterbringung beschlossen worden. Durch Proteste sei der Landkreis 2009 darauf aufmerksam geworden, dass auch eine zentrale Unterkunft "seine Tücken hat". Sie verwies darauf, dass es laut Landesgesetz "den Flüchtling nicht gibt", es handele sich um unterschiedliche Gruppen. Abgelehnte Asylbewerber beispielsweise "sollen in der Regel in kleinen GUs untergebracht werden". In Möhlau gehe es um einen "Personenkreis mit abgelehnten Asylanträgen, bei denen der Rechtsweg ausgeschöpft ist". Auf Grund nicht nur unklarer Identität, sondern auch Hindernissen im Herkunftsland "konnten sie nur noch nicht abgeschoben werden". Man wolle die "Unterbringung für den betroffenen Personenkreis so gut wie möglich" gestalten.
Nach diesen Ausführungen merkte die Moderatorin Katharina Kühnle (Studienleiterin für gesellschaftspolitische Jugendbildung) an, das Frau Tiemann gar nicht auf das neue Konzept selbst eingegangen ist, sie übernahm dies: Das Konzept sieht eine Unterbringung von ca. 100 Personen in einer zentralen Sammelunterkunft (GU) vor, weitere ca. 100 Personen sollen in Wohnungen untergebracht werden. 80% der Zuschlagskriterien werden vom Preis bestimmt, 15% durch die vorhandene Infrastruktur (2% Einkaufsmöglichkeiten, 4% Verkehrsanbindung, 4% Schule, Kindergarten, Kita, 3% medizinische Betreuung, 2% Behörden), weitere 5% bleiben noch übrig für das Betreiber- und Betreuungskonzept. Bewerbungen können bis zum 01. Dezember 2010 eingereicht werden, die Zuschlagsfrist endet am 07. Februar 2011.
Diskussion
Aus der Vorlage für eine neue Unterbringung der Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg, ist wenig Konkretes zu entnehmen. Bisher entschied der Landkreis über die Betroffenen hinweg, ohne sie auch nur ansatzweise zu informieren. Deshalb stellten die anwesenden Flüchtlinge die Frage: "Was passiert mit uns?", in der Hoffnung endlich etwas über ihre Zukunft zu erfahren.
Eine jugendliche Bewohnerin ging auf die Anmerkung von Frau Tieman ein, dass die Flüchtlinge in Möhlau ihre Identität nicht offen legen. Aus ihrer Erfahrung sei völlig klar, dass in den meisten Fällen eine Mitwirkung direkt zur Abschiebung führt und nicht zu einer Unterbringung in einer Wohnung oder zu einer Arbeitserlaubnis. Bianka Mopita (Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt) machte klar, das auch viele der Flüchtlinge aus Krisen- und Kriegsgebieten geflohen seien, wo es nicht immer möglich sei, alle persönlichen Dokumente zu retten. Auch wäre es nicht in allen Ländern üblich, sich zentral registrieren zu lassen, dies trifft vor allem auf einen Teil der Roma aus dem ehemaligen Jugoslawien zu. Während des Bürgerkriegs in Jugoslawien wurden gezielt ihre Unterlagen verbrannt.. Später sei es schwierig in Deutschland einen Nachweis zu erbringen, der den deutschen, bürokratischen Anforderungen genügt.
Aus dem Publikum wurde auch darauf hingewiesen, das die Behauptung Tiemanns, alle rechtlichen Wege für einen Asylantrag der im Lager Möhlau lebenden Menschen sei abgeschlossen, falsch sei, da mehrere Flüchtlinge noch Asylfolgeanträge laufen haben.
Auch wies der Mitbegründer der Möhlauer Flüchtlingsinitiative, Salomon Wantchoucou, darauf hin, dass sich geduldete Flüchtlinge über Jahre in der BRD aufhielten. Dies sei zwar nicht vorgesehen, so sehe aber die Realität aus. Er sei hier und lebe noch, auch nach der Ablehnung seines Asylantrages. Eine Ablehnung des ersten Asylantrages erfolge in 98% der Fälle. Er forderte "ein Ende der Isolation, 16 Jahre in einer GU ist unmenschlich".
Ein Aktivist wollte von Frau Tiemann wissen, wie es möglich sein kann, das niemand aus Möhlau für die Altfallregelung in Frage käme, obwohl sich die Menschen schon bis zu 16 Jahren in der BRD aufhielten. Und warum der Landkreis Wittenberg zu einem der restriktivsten Sachsen-Anhalts zähle, er verweigere fast ausnahmslos die Ausstellung einer Arbeitserlaubnis. Dies ist eine Vorraussetzung ist, um für die Altfallregelung in Frage zu kommen.
Die Aussage von Tiemann, man müsste sich an den Kreistagsbeschluss von 1998 halten und so konnte bis heute die Situation der Flüchtlinge nicht geändern werden, wurde von Jörg Schindler (Die Linke) richtig gestellt: Der Kreistag hat eben "nicht über eine Änderung abgestimmt", sondern der Landrat hat sich für die "Schließung des Lagers Möhlau" entschieden und damit für eine neue Unterbringung. Dies geschah, nachdem Die Grünen ihren Antrag im Kreistag für eine Schließung der GU Möhlau zurückgenommen hatten, weil keine Kreistagsmehrheit zu erwarten war. Handlungsspielräume habe es also seit 1998 gegeben, man habe sich mit dem Thema aber nie beschäftigt.
Michael Marquardt gab schließlich zu bedenken, dass der Innenminister Hövelmann die Landkreise nicht erst seit heute anhält, Flüchtlinge in kleinen GUs unterzubringen und Familien dort gar nichts zu suchen haben.
Fazit
Auf viele Fragen und Anmerkungen bezüglich der Ausschreibung zur neuen Unterbringung der Flüchtlinge und die sonstige Situation der Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg ging Frau Tiemann weder in der offenen Diskussion ein, noch in den anschließenden kleineren Gesprächsrunden.
Bleibt festzuhalten, dass der Landkreis Wittenberg eine Unterkunft für 100 Personen für eine kleine GU hält. Dabei auch davon ausgeht, so effektiv einer Ghettoisierung und Isolation der Flüchtlinge vorzubeugen.
In den ausgearbeiteten Anforderungen finden sich fast nur kopierte Passagen aus den gültigen Gesetzen bezüglich Asylbewerber. Diese bestehen aus Kann-Regeln und Mindestanforderungen für die Unterbringung. Die zuständige Behörde bzw. die vom Kreistag eigens gegründete AG Möhlau war auch nach Monaten nicht in der Lage, einen eigenen, klaren Anforderungskatalog auszuarbeiten, der die Grundlage für eine menschenwürdiges Unterbringung der Flüchtlinge seien könnte. So obliegt es nun dem neuen Betreiber zu entscheiden, ob sich auf 5 m² (gesetzliche Mindestanforderungen für Asylbewerber) ein menschenwürdiges Leben realisieren lässt.
Offen ist auch, ob der jetzige Betreiber des Lagers Möhlau, die KVW Beherbergungsbetriebe unter Leitung von Herrn Marcel Wiesemann, als ein geeigneter Betreiber für die neuen Unterkünfte angesehen wird. Der Zustand der maroden Kaserne in Möhlau, der auch nach Ausstellung einer Mängelliste vom Landkreis über Jahre nicht verändert wurde, könnte für sich sprechen. Auch in den Lagern Zeitz und Neuruppin tat sich Herr Wiesemann damit hervor, dass er bei der Unterbringung der ihm zugewiesenen Menschen nur Gewinnmaximierung im Blickfeld hatte. Damit dürfte er nicht zur Debatte stehen, falls der Landkreis Wittenberg tatsächlich eine menschenwürdige Unterbringung der 180 Flüchtlinge möchte.
Flüchtlingen und Vertretern des Runden Tischs gegenüber äußerte Wiesemann schon vor einem halben Jahr, dass er sich nach neuen Immobilien umschaut, da er auch der neue Betreiber sein möchte.
Andere Bewerber haben drei Monate Zeit, um Objekte anzumieten oder zu kaufen und sich als qualifizierte Bewerber darzustellen. Herr Wiesemann erhielt so einen 6 monatigen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Mitbewerbern, obendrein nahm er an mindestens einer Sitzung der AG Möhlau teil.
Während Herr Bialek abschließend anmerkte die neue Ausschreibung "kann nur ein Zwischenschritt sein", da über die Vergabe 80% der Preis entscheidet, beschränkte sich Frau Tiemann darauf "das Beste für die Betroffenen zu hoffen."
Während die Verwaltung mit Hoffen und Bangen beschäftigt ist, wer aber handelt dann und wer setzt sich für eine tatsächliche Verbesserung der momentan katastrophalen Zustände ein? Letztlich hat sich der Landkreis Wittenberg dafür entschieden die Ausarbeitung des neuen Unterbringungskonzepts in die Hände der Kreisverwaltung zu geben und weder die Betroffenen selbst noch Teile der Zivilgesellschaft in diesen Prozess mit einzubeziehen. Und auch einem Gutachten des Psychosozialen Zentrums aus Halle, das zahlreiche BewohnerInnen der GU psychologisch betreut, wurde keine Beachtung geschenkt und war der zuständigen Verwaltungschefin und Vertreterin des Landrates bis zu diesem Tag unbekannt.