Die Familie Stolla und andere Flüchtlinge über die aktuellen Vorfälle Abschiebungsversuch
von Nazmi und Wjollca Stolla am 16.07.09 in Möhlau (Sachsen-Anhalt)

In den frühen Morgenstunden des 16. Juli gegen 4.10 Uhr klopfte es an der Tür bei der Familie Stolla im Flüchtlingswohnheim des Landkreises Wittenberg in Möhlau. Ohne Kenntnis einer bevorstehenden Abschiebung öffnete Nazmi noch mit Unterwäsche bekleidet die Wohnungstür im 3. Stock der ehemaligen NVA-Kaserne. Sofort drangen mehrere Polizeibeamte in die Wohnung ein, überrumpelten die Familie und verbreiteten Hektik. Vier Polizisten und eine Polizistin in Uniformen sowie eine männliche Person in Zivilbekleidung sollten die Abschiebung durchsetzen, wobei Herr Stolla drei dieser Personen als aggressiv und unfreundlich beschreibt. Die drei übrigen benahmen sich höflich. Einer der Polizisten forderte barsch in etwa: "Komm, komm, komm, der Flieger geht gleich!"
Völlig perplex versuchte Herr Stolla, die Situation einzuschätzen, indem er viele Fragen stellte, ob er beispielsweise seinen Anwalt anrufen könnte, ob es noch zu einer Gerichtsverhandlung kommt oder ob sie wenigstens ihre Sachen packen dürften. Diese Fragen wurden kurz angebunden mit "Nein" beantwortet. Wie gelähmt wussten Herr und Frau Stolla nicht, was mit ihnen geschah. Mit Handgreiflichkeiten sollten sie zum Gehen gedrängt werden. Durch diese blitzartige Aktion verschärfte sich die Bedrohlichkeit der Situation. Die Polizistin griff nach Frau Stolla, die wie ihr Mann nur mit Unterwäsche bekleidet war.

Wie viele Bewohner des Heims leidet auch Frau Stolla unter einem schwer einzuordnenden Krankheitsbild. Ursächlich hierfür ist die schlecht zu überwindende Sprachbarriere, die bei Arztbesuchen im Wege steht. Wjollca Stolla leidet unter ständiger Migräne, Diabetes und Entzündungen im Gehirn (der Beschreibung nach eventuell ein Tumor). Sie hat bereits vier Operationen im Bauch- und Halsbereich über sich ergehen lassen und zudem erschweren ihr die Folgen von Traumata, die sich häufig in Apathie in Stresssituationen äußern, den Alltag. Von dem kritischen Zustand seiner Frau wissend fürchtete Herr Stolla in diesem Tumult gar ihren Tod und hatte zuvor bereits darauf hingewiesen.

In seiner Ausweglosigkeit sah er nur die Möglichkeit mit seinem eigenen Tod zu drohen und stürzte auf den Balkon zu. Über die äußere Feuerleiter kletterte er auf den Balkon des fünften Stocks, da ein Beamter versuchte ihn festzuhalten. Er rief, dass er lieber auf diese Weise in Deutschland sterben wollte, als abgeschoben und in seinem Heimatland umgebracht zu werden.

Ungefähr eine halbe Stunde später soll die Feuerwehr eingetroffen sein. Ein Sprungkissen wurde vorbereitet. Nachdem dieses nun positioniert worden war, begann ein gefährliches Katz- und Mausspiel, bei dem Beamte immer wieder versuchten, Herrn Stolla festzunehmen. Erreichten die Polizisten über den Treppenaufgang und die jeweilige Wohnung den Balkon auf dem sich der Verzweifelte befand, entfloh dieser wieder außen über die Feuerleiter, welche im fünften und letzten Stock schlechter gegen einen Absturz gesichert ist, in einen der nebenliegenden Balkone. Währenddessen bewegten die Feuerwehrleute das Sprungkissen auf dem Weg vor dem Gebäude mit.

Entgegen der bisherigen Darstellung in der Presse seien Blumentöpfe nicht vorsätzlich geworfen worden, sondern, laut Aussagen der Heimbewohner, einer Frau beim Hineilen auf den Balkon versehentlich heruntergefallen. Außerdem warfen keine Heimbewohner mit Holzgegenständen nach den Einsatzkräften der Feuerwehr, sondern Herr Stolla selbst versuchte die Feuerwehrleute daran zu hindern, ohne sie wirklich treffen zu wollen, ihm weiterhin mit dem Sprungkissen zu folgen. Unterstützend riefen einige Bewohner andere Familien und Personen auf, aus Ihren Wohnungen herauszukommen und zu protestieren.

In der Zwischenzeit hatten sich weitere Einsatzfahrzeuge um das Möhlauer Heim gesammelt. Darunter befanden sich drei Einsatzwagen der Feuerwehr, drei Sanitätsfahrzeuge und viele Polizeiwagen. Gegen 6 Uhr früh befand sich Nazmi Stolla letztendlich auf dem Dach des fünfstöckigen Plattenbaus. Zu dieser Zeit traten zwei Polizeibeamte an ihn heran, baten ihn, nicht zu springen und teilten ihm mit, dass seine Frau zusammengebrochen war, in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste sowie, dass die Abschiebung deshalb ausgesetzt wurde. Als Herr Stolla die Frage, ob er weiterhin noch springen wolle, wenn sich alle Kräfte umgehend zurückziehen würden, verneinte, verließen Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr den Einsatzort. Abschließend informierte ein einzelner Polizist Nazmi Stolla über den Rückzug, kündigte an, sich auch zu entfernen und bat die Anwesenden, dafür zu sorgen, dass er das Dach tatsächlich verlassen wird. Damit war die akute Bedrohungssituation beendet.

Nazmi (*1960) und Wjollca Stolla (*1962) leben seit 1999 in Deutschland und seither befinden sie sich in Möhlau. Sie flüchteten vor dem Krieg im Kosovo. Herr Stolla gab an, bei seinem Anwalt handfeste Beweise für die lebensbedrohliche Situation seiner Familie in seinem Heimatland hinterlegt und das auch der Ausländerbehörde des Landkreises Wittenberg mitgeteilt zu haben. Ferner soll diese ebenfalls über den Gesundheitszustand von Frau Stolla in Kenntnis gewesen sein. Kinder und Geschwister der Familie Stolla leben bereits in stabilen Verhältnissen in verschiedenen Städten Deutschlands und der USA.

Doch ihnen selbst bleibt dieser Lebenswandel aus mysteriösen Gründen verwehrt und ihre eigenen bescheidenen Umstände sollten gar am Tag der Abschiebung noch verschlechtert werden. Unvorstellbar ist es, dass den Behörden bei der Einschätzung des Falles Stolla, die Lebensgefahr im Kosovo, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, dass die meisten Kinder und Verwandten der Stollas sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut haben sowie der gesundheitliche Zustand völlig egal zu sein scheinen. Eher zeigt sich in ihren Bemühungen eine perfide Systematik: Vor zwei Jahren sollte Nazmi Stolla für die Bewilligung eines dauerhaften Aufenthalts, der Arbeitserlaubnis und der Zuteilung einer Wohnung fernab des Lagers all seine Dokumente einreichen. Da sich die Beschaffung aus dem Kosovo allerdings als äußerst schwierig und kostspielig erwies und die Suche nach einem Job über eine private Arbeitsvermittlung zudem einiges an finanziellem Aufwand bedeutete, waren die Stollas gezwungen Schulden aufzunehmen. Die Schriftstücke wurden erbracht und eine in Aussicht gestellte Feststelle von einem Jahr wurde organisiert. Weder die Aufenthaltsgenehmigung noch die Arbeitserlaubnis geschweige denn eine eigene Wohnung wurden von der Ausländerbehörde gestattet. Von einer gewissen Willkürlichkeit zeugt auch die versehentliche Aussetzung der vor kurzem neugewonnen Arbeitserlaubnis. Frau Koch sagte, sie habe es einfach vergessen, als sich Herr Stolla nach der Richtigkeit dieses Vorgehens erkundigte.

Bei einem der letzten Amtsbesuche verwehrte die Mitarbeiterin, Frau Koch, das Beisein eines Dolmetschers trotz der dringlichen Bitte; beide Flüchtlinge verstehen schlecht deutsch. Gerade bei diesem Treffen legte die Beamtin ihnen ein Dokument zum Unterschreiben vor, das die freiwillige Ausreise zur Folge hat. Natürlich hatten sie Angst, ein Papier zu unterschreiben, dessen Inhalt sie nicht verstanden. Auf die Frage, um welches Dokument es sich handelte, versicherte Frau Koch, es sei nur die Bestätigung einer erteilten Information über Abschiebung. Sie unterzeichneten.

Jetzt, ein paar Tage nach der versuchten Abschiebung, verbringen sie ihre Zeit versteckt und in ständiger Angst aufgespürt zu werden, ihrer wenigen Habseligkeiten beraubt. Frau Stolla hatte vorzeitig das Krankenhaus aus Angst vor der Deportation verlassen. Beide haben einen schweren Schock erlitten, sind psychisch am Ende, können kaum essen und schlafen und haben mittlerweile auch physische Schäden davon getragen. Dass die Wohnung der Stollas verriegelt ist und die Sachen durch Frau Koch freigegeben werden müssen, erfuhr ein Angehöriger vom Hausmeister des Lagers, als er einige private Dinge für die Stollas abholen wollte. Herr Stolla schloss das Gespräch mit dem Satz: "Selbst wenn ich hier in Deutschland sterbe, ist das besser, denn dann kann ich wenigstens von meinen Angehörigen besucht werden."

Die Schilderung des Verlaufs des Abschiebeversuchs am 16.7. 2009 und des Vorgehens der Ausländerbehörde basieren auf Aussagen der Familie Stolla und anderen Flüchtlingen Lagers. Das menschenverachtende Vorgehen der Behörden und Ämter ist ein immer wiederkehrendes Motiv in den Aussagen der Betroffenen. Erfahrungen mit diesen und anderen Missstände sind ebenfalls anderen Veröffentlichungen der Flüchtlingsinitiative Möhlau oder von no lager halle zu entnehmen.

* Aktion
30. Juli - 11:30 Uhr Wittenberg Hbf
Demo für die Schließung des Lagers in Möhlau & dezentrale Unterbringung der Asylsuchenden in Wohnungen in Wittenberg
togo action plus

weitere Texte:

• 18.07.09, Bericht aus dem Lager Möhlau im Landkreis Wittenberg (Sachsen-Anhalt) freie-radios.net
• 19.07.09, Flüchtlingsinitiative Möhlau - Bedrohung mit Abschiebung nach dem Tod von Azad Ist Möhlau ein Teufelskreis? the caravan
• 16.07.09, refugee initiative Möhlau, deportation threaten after the death of Azad read more (htm)
• 15.07.09, Kultur mit Sahne e.V. fordert Flüchtlingslager Möhlau zu schließen. Sofort! link
• 13.07.09, Grüne kritisieren Flüchtlingslager Möhlau - Landkreis Wittenberg muß Finanzflüsse aufklären
grüne sachsen-anhalt
• Einladung zur öffentlichen Begehung des Lagers in Möhlau am Samstag, den 11.07.09, von 12 - 16 Uhr - Asylbewerberunterkunft, Raguhner Str. 99, 06791 Möhlau PDF-Datei
• 04/07/2009, Lager Möhlau. Dieser Alltag ist struktureller Rassismus, und die Heimleitung scheut das Licht der Öffentlichkeit
togo action plus
• 03/07/2009, PM - Nachdem Azad Murad Hadji lebensgefährlich verletzt. Lager Möhlau schließen! mehr lesen (htm)
• Ende Juni 09 Bilder vom Lager in Möhlau & Gutschein öffnen
• Mitte Juni 09 Bilder vom Lager in Möhlau öffnen
• 09/06/2009 Text in English: Salomon Wantchoucou: Stop further intimidations of the refugee Activist and Speaker of the Refugee Initiative in Möhlau-lager the caravan
• 18/05/2009 Isoliert statt integriert - Flüchtlinge beklagen katastrophale Lebensbedingungen in Möhlauer Asylbewerberheim.
Junge Welt
• 14/05/2009 Interview mit Salomon zum "Offenen Brief der Flüchtlinge in Möhlau freie-radios.net
• 07/05/2009 Unterstützt den Offenen Brief der Flüchtlinge im Lager in Möhlau (Landkreis Wittenberg) mehr lesen (htm)
Offener Brief als PDF
• 10/03/2009 "GUTSCHEIN" -- STOP IT NOW! Aufruf von Salomon aus Möhlau mehr lesen (htm)
• 03/03/2009 Interview mit Salomon freie-radios.net
• 06/02/2009 Der Protest des VOICE Refugee Forums und Bilder von Salomon W. mehr lesen (htm)
• 11/11/2008 Sachsen-Anhalt versucht Beniner nach Nigeria abzuschieben the caravan
• 05/10/2008 Stoppt das koloniale Erbe! Nigerianische Aktivisten protestieren gegen Abschiebung the voice forum
• 17/08/2008 Halberstadt: Nigerianische Abschiebeanhörungen. Vom 12. August bis 14. August wurden AsylberwerberInnen aus der gesamten BRD in die GU-ZAST der nigerianischen Botschafts­delegation vorgeführt. mehr lesen (htm)

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